Zurück: LESEPROBEN

Die Reise im Kopf
Journey in the Head / Voyage dans la tête

Philipp Heckmann, 2000
Ø 70cm, Collage, Buchbinderkarton, # Available

 
Leseprobe aus dem Buch TagundNachtgleiche ©

   Die Reise begann recht unspektakulär. Mein altes Haus hatte ich zunächst angehoben, dann auf Räder montiert und mit allen Erinnerungen an den Wagen gehängt. Unweit von Mitternacht pinselte ich noch: "Wherever I lay my head is my home" über die Nummernschilder und kurz danach war es so weit. Ich ließ den Motor an und mein bisheriges Leben hinter mir.
   Dichte Nebelschwaden nahmen mir sogleich die Sicht, es war mir einerlei, ein Auge auf dem Kompass, eines auf der Straße, fuhr ich unbeirrbar immer Richtung Süden. Das endlose graue Band rollte ununterbrochen unter mir hinweg und ich durchfuhr eine weiße, scheinwerferbeleuchtete Wand. Vielleicht war dies die Zufahrt ins Nichts. Ohne es zu ahnen, lotste mich die Einbahnstraße schnurgerade bis zu einem verschleierten Horizont, danach stieg sie unablässig in die Höhe. Im Blindflug bewegte sich der Wagen wie von selbst. Immer weiter, immer höher und nach einer, nicht enden wollenden Fahrt durch den undurchdringlichen Nebel, öffneten sich die Wolken und mir näherte sich die Morgenröte eines zeitlosen Augenblicks. Mittlerweile umkreiste ein Lachmöwenschwarm spöttisch mein Haus und nach den letzten Nebelschwaden kam ich vor einem mysteriösen Schild zum Stehen: „The One Way Drive“. Ich hatte den Scheitelpunkt dieser eigenartigen Straße erreicht und befand mich jetzt in schwindelerregender Höhe unter einer Regenbogenbrücke. Rechts und links der schmalen Fahrspur ging es jäh hinab in die Tiefe, eine Umkehr war ausgeschlossen. Hinter mir lag die bleierne Nebelwand der Nacht, vor mir die unendliche Weite eines wolkenlosen Himmels und das spiegelglatte Meer. Der Fahrweg führte steil hinab, direkt auf den Ozean zu, kein Land war mehr auszumachen.
   Kein Land? Da war ein Land. Die Straße führte direkt unter der Wasseroberfläche weiter. Mit den Augen konnte ich klar verfolgen, wie sie sich schnurgerade in der Tiefe verlor. Ohne nachzudenken, stieg ich ein, schaltete in den Leerlauf und löste die Bremsen. Gemächlich nahm mein Gespann Fahrt auf und das Haus schob den Wagen unaufhaltsam vorwärts. Immer schneller jagte ich die Straße hinunter. Die Tachonadel blieb bei 280 km/h stehen. In völliger Gelassenheit entzündete ich eine Zigarette und durchbrach ohne den geringsten Wellenschlag das dünne Häutchen der Wasseroberflächenspannung. Der Ozean flutete den Innenraum. Meiner Zigarette war dies gleichgültig, sie brannte selbstvergessen im Aschenbecher weiter. Ohne Schaden, Nässegefühl oder Atemnot tauchte ich hinunter ins Meer. Alles schien wie gewohnt, nur die Umgebungsfarbe hatte sich ins Bläulich-violette verändert und die Sonnenstrahlen warfen bunte Reflexe auf den Meeresgrund. Der Wagen rollte langsam aus und ich kontrollierte mich im Rückspiegel. Alles schien normal, weder Fischaugen noch Kiemen hatte ich bekommen, der Motor ließ sich problemlos starten und blubberte regelmäßig. Schmunzelnd nahm ich mir vor, später nachzusehen, ob und wie die Toilette und die Dusche im Haus noch funktionierten. Delfine und Putzerfische begleiteten mich, während ich eine mit Relikten versunkener Kulturen angefüllte Trümmerlandschaft durchfuhr. Am Straßenrand lagen Säulen, Statuen, Einkaufswagen, Amphoren und Weichspülerflaschen, alles war dicht besetzt von Muscheln und Korallen. Fischschwärme durchstreiften die Wracks von Öltankern und U-Booten, auch ein versunkenes Floß sah ich. Aus den Seetangwäldern lugten verfallene Kathedralen und Industrieanlagen hervor, Bunkerruinen versanken im Meeresboden. Überwältigt von den bizarren Formen und Farben der Unterwasserwelt, die in ihrer heiteren Lebendigkeit die leblosen Dinge des Menschen überwucherten und verdauten, versuchte ich erst gar nicht etwas geschichtlich oder wissenschaftlich zuzuordnen. Diese erstaunliche stille Welt und ihre Bewohner zogen mich vollständig in ihren Bann. Die Unterwasserfahrt verging dabei wie im Fluge. Inmitten der Schlummerstunde verließ der Fahrweg allmählich die Ebene der Ruinenfelder und führte hinab in die Tiefe. Ich ließ mich treiben, die Straße verlief Schnurgeradeaus, das Einzige anstrengende war, ständig bremsbereit zu sein, um keinen Fisch zu überfahren.

© Philipp Heckmann