Ohne sonderliche Ermüdung durchstreifte ich eine
traumhaft schöne Landschaft mit sanften Hügeln, ausgedehnten
Wäldern, Flüssen und Seen. Es war die Zeit der Blüte
und die Waldtiere grüßten mich ohne Vorurteile. Ich war beseelt
vom Licht und der Wärme des Frühlings. Dennoch überlagerte
meine Einsamkeit immer wieder die Liebenswürdigkeiten der Natur.
Wie lange war es schon her, dass ich eine menschliche Stimme gehört
hatte? Ich wusste es nicht zu sagen.
Meine Schwermut schien etwas Dunkles anzuziehen, denn
Schritt für Schritt näherte sich mir ein dumpfes Grollen aus
der Ferne. Binnen weniger Minuten war das Donnern beständig zu
hören und wurde stetig lauter. Es war kein Gewitter. Der Himmel
war wolkenlos. Als ich mir ein Schlafplätzchen suchte, war ich
mir nicht sicher, ob ich bei dem permanenten Lärm einschlafen konnte.
Ein bitterer Brandgeruch schwamm durchs Gehölz und Blitzlichter
erleuchteten den düsteren Wald. Meine Träume wurden unruhig.
Immer wieder schreckten mich laute Donnerschläge auf und verunsicherten
mich zusehends.
Noch bevor die Nacht den Tag gebar, war ich auf den
Beinen und folgte alarmiert einem Wildschweinpfad. Ein gelb-grauer,
brenzlig riechender Nebel hing zwischen den Bäumen. Das pausenlose
Donnern wurde unerträglich. Ich hielt mir die Ohren zu und lief
ziellos durch die schwefligen Nebelschwaden. Unerwartet stürzte
ich in einen blutroten Fluss. Zum Glück war das Wasser nicht tief,
sodass ich zum gegenüberliegenden Ufer waten konnte.
Ich erstieg die Uferböschung und blieb voller
Entsetzen stehen. Vor mir lag eine von Einschlagskratern durchpflügte
rauchende Landschaft. Am Horizont sah ich brennende Städte, Explosionen,
Granateinschläge und Kampfflugzeuge. Panzer und Truppen kamen auf
mich zu. Ich befand mich hinter einer brusthohen Barrikade, aufgeschichtet
aus Abertausenden von Büchern. Ein kräftiger Mann lag zwischen
Farbeimern. Ich kroch auf ihn zu, schüttelte ihn und brüllte
inmitten der Detonationen: „Sind Sie verletzt? Brauchen Sie Hilfe?“
Im Geheul einer Granate verstand ich kaum mein eigenes Wort. Der Mann
erwachte und sah mich gelassen an. „Nein, danke“, antwortete
er mit einer lauten Bassstimme. „Hilfe brauche ich wirklich nicht,
alles ist bestens. Ich komme hier ab und an vorbei und schieße
mit meinem Bogen Pinsel voller Farbe auf die Volltrottel da drüben.
Ich mache das zur Entspannung. Gestatten, Argos, ich bin Maler.“
Er wollte mir die Hand reichen, aber ich sah ihn nur verdutzt an und
schrie, dass wir hier schleunigst verschwinden sollten. Panzer, Truppen
und Hubschrauber hätte ich gesehen und sie kämen direkt auf
uns zu.
Argos war bis auf einen Lendenschurz unbekleidet.
Er erhob sich, nahm seinen Bogen, tauchte genüsslich einen Pinsel
in rosa Leuchtfarbe und legte ihn wie einen Pfeil an die Sehne. Er war
jetzt völlig ungeschützt. Ein Sturmsoldat, der schon bedrohlich
nahegekommen war, feuerte ziellos mit seinem Maschinengewehr in unsere
Richtung. Seine Kugeln wurden nach unten gezogen und schlugen vor den
Büchern in die Erde. Argos spannte lächelnd den Bogen und
schoss ihm die Farbe auf die Stirn. Wie eine Zielscheibe auf dem Rummelplatz
fiel der gute Mann nach hinten und ließ das Gewehr fallen. Er
glaubte zunächst schwer verletzt zu sein, zappelte und schrie.
Dann betastete er sein Gesicht, bemerkte die rosa Schweinerei auf seiner
Haut und verteilte die ölige Leuchtfarbe mit den Händen flächendeckend
auf seinem Dienstanzug. Von einer tarnfarbenen Uniform konnte jetzt
keine Rede mehr sein, durch den Matsch kriechend zog er sich Hals über
Kopf zurück, wobei er von Argos noch einen malerischen himmelblauen
Farbtupfer auf den Hintern verpasst bekam. „Freund“, wandte
er sich mir zu, „du brauchst keine Angst zu haben, dieser Krieg,
wenn er denn einer ist, tobt schon seit Jahrtausenden. Mit Waffen kann
niemand unsere Welt erobern, wir sind hinter dem Bücherwall absolut
sicher. Du kannst zusehen, wie die Truppen immer wieder in eine andere
Richtung zurückgeworfen werden. Wer begonnen hat, die Bücher
hier aufzuschichten, kann niemand mehr sagen. Der Wall wird von Tag
zu Tag stärker. Wir sind hier vollkommen geschützt durch das
gesammelte Wissen. Die da drüben können vielleicht Menschen
töten, aber keine Ideen.“
Ich traute dem Frieden nicht und würde mich jetzt,
ob er mitkam oder nicht, diskret aus dem Zielgebiet entfernen. „Lass
dich nicht einschüchtern“, brüllte Argos zwischen den
Erschütterungen. „Steh auf, schau sie dir an. Ihre Waffen
sind wirkungslos. Die Unvernunft hat uns den Krieg erklärt, doch
der Sieger steht schon seit Kriegsbeginn fest. Wir brauchen nicht zurückzuschießen.
Wir sind ihnen überlegen. Diese Wahnsinnigen führen einen
Krieg gegen sich selbst und bemerken es nicht einmal. Erobern kann man
Menschen nur, indem man ihre Herzen gewinnt. Lassen wir sie weitertoben.
Der einfältige Sturm im Wasserglas ist ohnehin viel zu laut. Ich
wollte gerade gehen. Du kannst bei mir übernachten, wenn du willst.
Es ist nicht weit von hier.“
Wir durchwateten den Fluss und nicht lange danach
war kaum noch etwas vom Kampfgetöse zu hören. Argos wandte
sich an mich. „Siehst du, Kriege kennen nur Verlierer. Die Teilnehmer
werden über kurz oder lang von Gevatter Hein im Niemandsland der
Geschichte verschluckt. Das Leben geht auch ohne sie weiter. Immer mehr
begreifen das. Sie kommen zu uns und retten sich aus dem Irrsinn ihres
Daseins. Wird Fremdbestimmung erst einmal erkannt, ist sie leicht zu
überwinden. Landsknechte müssen dafür nur zwei Dinge
tun. Die Waffen und das Falsche in ihrem Leben von sich werfen. Zurückgekehrt
ist, soweit ich weiß, noch keiner.“
Auf dem Weg zu Argos Haus begannen wir einen heiteren
Dialog über das Sein, die Liebe und einige der restlichen Themen.
Vom ersten Augenblick waren wir wie Brüder. Es war, wie wenn wir
uns schon immer gekannt hätten und der Beginn einer wunderbaren
Freundschaft.
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