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Der Irrgarten / The Labyrith / La Labyrinthe
Philipp Heckmann, Ø 70cm, Collage, Buchbinderkarton, Private Sammlung

 

Leseprobe aus "Die Kinder der Monde Parallèle" ©

Leseproben


    Die Zeit verging. Jason und Jasmin machten sich Gedanken über die Schulausbildung der Kinder. Sie auf eine Schule zu schicken hätte bedeutet, dass sie die Insel der fischenden Katze verlassen mussten und beide hatten Bauchschmerzen bei dieser Vorstellung. Jasmin erinnerte sich an ihren eigenen schulischen Leidensweg und fragte Jason: „Wie war eigentlich deine Schulzeit?“ „Frag lieber nicht, mir schleichen dabei verstaubte Erinnerungen an sinnlose Zeiten durch den Kopf.“ Sie waren ratlos.
    „Mir kommt da eine Idee! Wir könnten Mäc Byte, meinen alten Computer aktivieren! Ich habe noch ein Computerspiel, damit kann man eine Schulkarriere bis zum Bachelor durcharbeiten“, schlug Jason vor. „Es ist ziemlich realistisch. Vor allem die Lehrer sind sehr naturgetreu durchgearbeitet. Das Programm läuft neun Jahre in Echtzeit. Was meinst du?“ „Fragen wir erst einmal die Kinder, was sie davon halten“, entgegnete Jasmin und rief für den Abend den großen Familienrat zusammen.
   Jasons Ausführungen begeisterten die Kinder. Er unterdrückte sein aufkommendes schlechtes Gewissen, als er ausrief: „Was sind schon neun Jahre für euch. Die vergehen wie im Flug!“ Allemal wäre das kinderleichte Schulprogramm für Genies wie sie in null Komma nichts zu bewältigen. Ein einleuchtendes Argument war die Aussicht auf eine „Professor Dr. Naomi“ oder einen „Master of Nemo“ und die damit verbundene Tatsache, ohne Weiteres in die Riege der Nobelpreisträger aufzusteigen. Naomi und Nemo gaben ihr uneingeschränktes Indianerehrenwort, ab sofort, engagiert, gewissenhaft, unentgeltlich und zuverlässig bei jedem Wetter eine Vierzigstundenwoche in der virtuellen Schule zu verbringen.
Die erste Schulstunde begann um 07:30 h des nächsten Tages. Naomi und Nemo standen schon kurz vor Sonnenaufgang freiwillig auf und weckten den Hahn mit Wolfsgeheul. Caruso fiel vor Schreck von seiner Hühnerleiter und vergaß zum ersten Mal in seinem Leben, den Weckappell auszukrähen.
   Die Kinder waren sichtlich aufgeregt und plünderten mit Bravour ihre Schultüten vor dem leeren Bildschirm. Pünktlich zu Schulbeginn begann der Monitor zu flackern und es klingelte schrill zur ersten Stunde. Versteckt hinter einem Himbeerbaum beobachteten Jason und Jasmin das Geschehen.
   Naomi und Nemo wurden von der Direktorin Fräulein Pauke, einer ältlichen Mittfünfzigerin im mausgrauen Reiherkostüm, begrüßt. Eine lange Rede mit kurzem Sinn erwartete sie. Lateinische und griechische Sprachstämme durchwanderten ein großes belehrend-mahnendes, durchaus gut gemeintes Blabla. Naomi und Nemo verstanden zwar nur Weltraumbahnhof, blieben dennoch höflich sitzen. Der dicht gedrängte Stundenplan wurde verlesen und es begannen die ersten Allgemeinbildungstests. Naomi und Nemo waren begeistert. Sie konnten alles beantworten. Selbst aus was Milchreis besteht, wussten sie auf Anhieb. Jason und Jasmin waren erleichtert und ließen die Kinder in der Obhut von Fräulein Pauke.
   Die anfängliche Begeisterung nahm während der nächsten Mondphasen kontinuierlich ab. Den Weckappell besorgte bald wieder Caruso im Solo und es wurde unendlich mühsam, Naomi und Nemo pünktlich vor den Schulcomputer zu setzen. Naomi kaute in Zeitlupe an ihrem Frühstück, und Nemo hatte immer etwas vergessen. Zumeist die Hausaufgaben von Naomi abzuschreiben. Es wurde ihnen fad, vor allem nachmittags beim Nachsitzen. „Jason, wozu braucht man die Wurzel aus Pi?“ „Pi ist, soweit ich mich erinnere, ein chinesisches Gemüse. Was man aus der Wurzel macht? Hm, Fräulein Pauke kann dir das sicher erklären.“ „Die sagt, es sei kein Gemüse, sondern ein Abstraktum. Das gehört zur Allgemeinbildung.“ „Ah so? Ist die gescheit. Ich habe mich bisher immer nur mit dem Konkretum beschäftigt.“ „Jasmin, wie geht es dem Genitiv zum zweiten Futurum bei Morgengrauen?“ „Moment, das habe ich mal gewusst. Äh, das ist schon so lange her. Ich glaube, so eine Frage muss man zuerst akkusativ, nein, dativ angehen … oder doch umgekehrt? Ehrlich gesagt, ich habe es noch nicht ausprobiert. Frag einfach Fräulein Pauke.“ „Aber genau die will das doch von mir wissen!“ Die überflüssigen Debatten fingen an gehörig zu nerven, und die gute Laune schwand dahin.
   „Ich komm mir vor wie in einem Irrgarten“, sagte Nemo zu Naomi. „Fräulein Pauke setzt uns wie Versuchsmäuse irgendwo mitten rein und wir sollen den Ausgang finden. Von Jason und Jasmin lernen wir immer etwas, das wir auch brauchen können. Ich kann schon mit den Zehen schnipsen. Milchreis kochen, fischen und den Purzelbaum im Präsens. Was von Fräulein Pauke kommt, habe ich noch nie gebraucht. Sie kann mir nicht schlüssig erklären, warum ich diesen Pipin den Kurzen eigentlich kennen soll. Mir raucht der Kopf vor lauter Grammatik und Algebra.“ Naomi seufzte. „Ich glaube, es wird Zeit, dass wir handeln“, antwortete sie. „Auf die Frage, wann unsere Geschichte begann, wusste mir Fräulein Pauke keine Antwort. Sie hat irgendwas von „Und es ward Licht“ gesagt. Das war selbst Mäc Byte zu viel. Er ist bei ihren Worten abgestürzt. Dann wollte ich wissen, mit wie vielen Jahren Katzen zu sprechen beginnen, doch anstatt mir zu antworten, erzählte sie mir das Märchen vom Unpaarzeher und den Bienchen. Mir ist regelmäßig schlecht, wenn ich an sie denke. Sie verfolgt mich schon in den entlegensten Träumen und hämmert mit ihrem Zeigestock auf meinem Kopf herum. Wir müssen den großen Familienrat einberufen!“
   Jason und Jasmin waren nicht sonderlich überrascht, als sie die Klagen der Kinder hörten. Sie nahmen die schulische Ausbildung wieder selbst in die Hand und Fräulein Pauke verschwand mitsamt ihrer Schule von der Festplatte.
   Nach mündlicher Absprache mit Jasons Allwiss-Lexikon wurde es den Kindern in einer Feierstunde übergeben. Allwiss war sehr stolz auf seine neue pädagogische Aufgabe. Er gab freudig, immer mit mehr oder weniger interessanten Querverweisen und vor allem ohne lästige Fragen, Auskunft. Die drei wurden die besten Freunde.

© Philipp Heckmann