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His part of Liberty
Sein Teil der Freiheit / Sa partie de la Liberté
Philipp Heckmann, 2006
Ø 70cm, Acryl/Pastell, Hartfaserplatte, Private Sammlung
Leseprobe aus dem Buch TagundNachtgleiche ©

   Argos führte mich aus dem Wald hinaus in eine unfruchtbare Einöde. „Bevor ich ankam, war die Gegend eine Müllkippe. In meiner freien Zeit habe ich alles auf einen Haufen befördert und nach und nach verbaut“, erklärte er mir. „Meine zukunftsorientierten Vorgänger haben hier das australische Modell umgesetzt”, fuhr er fort. „Ursprünglich bestand die Landschaft aus Akazienwäldern, die ein Mikroklima bildeten und das wenige Wasser mit ihren Wurzeln festhielten. Dann kamen die Farmer und wussten den Boden allemal besser zu nutzen als die Bäume. Sie sahen die Wälder als ihren natürlichen Feind und bekämpften sie mit allen Mitteln. Zunächst entschieden sie sich für die feurige Lösung. Ihre Rinder- und Schafherden haben die restliche Arbeit geleistet und sämtliche Baumkeimlinge abgefressen. Der Wald ist nachhaltig weg. Die ersten Jahre ging alles bestens. Das Gras wuchs üppig zwischen den Baumleichen. Dann begann die Dürre. Um das Vieh zu tränken, bohrten sie Brunnen und bald wurden immer Tiefere benötigt. Das Land verbrannte ungeschützt unter der Sonne und heiße Winde fegten die dünne Humusschicht von den Sandböden. Als der Regen beharrlich ausblieb und alle Brunnen versiegten, haben sie fluchtartig ihr Lebenswerk aufgegeben. Nicht unweit liegen noch massenhaft die Gerippe ihrer verendeten Rinder und Schafe. Die Spur der Farmer führt entlang der verlassenen Siedlungen nach Westen in die große Wüste.
   Trotz alledem, habe ich etwas gefunden das schon bald das Leben zurückbringen wird. Nicht unweit gibt es einen unterirdischen Fluss. Ich habe ihn in einem Höhlensystem entdeckt. Wenn ich ihn aufstaue, fließt er hierher. Siehst du die große Senke dort hinten? Sie wird sich in einen See verwandeln. Der Bau meiner Atelierarche ist fast fertig, ich kann es kaum erwarten, sie in der Wüste schwimmen zu sehen.
Jetzt ist es nicht mehr weit, wir sind fast da. Hinter dem nächsten Hügel steht mein Haus.“ Argos deutete in die Wüstenhitze, in der die Freiheitsstatue am Horizont flimmerte. „Sind wir in der Nähe von New York?“, wollte ich wissen. „Aber nein, du wirst schon sehen.“ Wir kamen auf ein großes Areal voller Schrott. In dessen Mitte stand eine skurrile, komplett aus Altmetall und Gerümpel errichtete Freiheitsstatue. Eine atemberaubende Konstruktion aus Telefonkabinen, Rohren, Badewannen, Wassertanks, Straßenlaternen, Autoteilen und was weiß ich noch allem, ragte in den Himmel. Argos hatte alles verbaut, was er in die Finger bekommen hatte. „Das ist meine bescheidene Hütte. Komm rein, hier ist es kühl. Ich zeige dir das Gästezimmer.“
   Das Innere des Hauses überraschte mich angenehm. Es war klar und hell. Die Wände waren sorgsam verputzt, und mit Bildern ausgemalt. Argos führte mich eine steile Wendeltreppe ins Turmzimmer hinauf. „Fühl dich wie zu Hause. Nebenan ist ein kleines Bad und im Schrank findest du etwas zum Anziehen.“ Argos blickte etwas mitleidig auf die Lumpen, in die ich gewickelt war. „Ich besorge uns noch etwas zu essen und bin bald zurück.“
   Sofort stand ich unter der Dusche, rasierte mich, schnitt meine Haare so gut es ging und fand passende Kleidung im Schrank, anschließend begrub ich feierlich die Reste meines Lodenmantels im Mülleimer. Vom Fenster aus, es war eine Toilettenbrille, der Deckel war der Fensterladen, konnte ich Argos beim Ernten in seinem Treibhaus beobachten. Es war in der Form eines Kürbisses aus Flaschen, Waschmaschinengläsern und Autoscheiben gebaut. Ich stieg wieder die Wendeltreppe hinunter in den großen Wohnraum des Erdgeschosses, setzte mich in einen Sessel, den Argos aus einem alten Weinfass gezimmert hatte und wartete. Die Einrichtung seines Hauses bestand aus irgendwelchen Dingen, die ihren ursprünglichen Zweck zugunsten einer neuen Bestimmung eingetauscht hatten. Von der Decke hing eine Holzplatte an Ketten, die man herunterlassen konnte. Es war Argos Esstisch. Ihm gegenüber war ein Wandbild. Es regte mich zwar farblich an, doch dargestellt war nichts Konkretes.
   Ich vertiefte mich in das Gemälde. Die abstrakten Formen lösten sich bald in sonderbar sinnlichen Empfindungen auf. Mir war, als hätte ich einen Urwald vor mir. Je mehr ich mich hineinversenkte, desto eindringlicher wurden diese inneren Bilder. Ich empfand gemalte Musik. Das Bild kam wie aus einer anderen Dimension. Aus einer Zeit, in der es die Zeit noch nicht gab. Die flüchtige Gegenwart des Hier und Jetzt stand still. Ein Eindruck, der kaum in Worte zu fassen war. Geheimnisvoll und meditativ, überdies träumerisch und erhebend. All diese Vorstellungen lösten tiefe Gefühle in mir aus und legten sich sanft über meine wortbehafteten Gedanken. Es war die Gewissheit einer alles übergreifenden Einheit, die aus den Formen und Farben sprach. Eine Vision des geordneten Chaos. – Ein Chaos in Harmonie und Vertiefung. Dieses Sinnbild schien wie von leichter Hand entstanden, dennoch aus der Nähe betrachtet, sah ich Abertausende, kraftvoll sichere Pinselstriche, die sich erst mit gebührendem Abstand zu einer Art Schaufenster verdichteten. Dieses Fenster gab mir einen Ausblick in ungeahnte Vorstellungswelten und erstrahlte im Wahren, Schönen und Guten. „Argos ist ein wahrer Meister“, sprach ich anerkennend und war tief berührt.
   „Ach, weißt du“, sagte Argos beim Essen, „es ist nicht von Bedeutung, ob ich male. Es gibt Wichtigeres im Leben, zum Beispiel einen Baum zu pflanzen.“
   Ich half ihm einige Monde bei der Fertigstellung seiner Arche und kurz, nachdem wir erfolgreich den unterirdischen Fluss aufgestaut hatten und die Atelierarche schwamm, drängte es mich weiterzuwandern.
Es war ein schwerer Abschied. Argos begleitete mich noch ein Stück des Weges, dann umarmten wir uns wortlos. Ein letztes Mal blickte ich zurück, sein Monument der Freiheit ragte kraftvoll in den weiten Himmel und davor stand Argos unerschütterlich wie ein Fels und sah mir nach.

© Philipp Heckmann