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Die goldene Zeit
Philipp Heckmann, 2012
Ø 70cm, Acryl/Pastell, Leinwand auf Hartfaserplatte, Private Sammlung
Leseprobe aus dem Buch TagundNachtgleiche ©

   Bis zur Mondfinsternis lief ich ohne Unterbrechung weiter. Der Boden war feucht, ich war todmüde und suchte einen Schlafplatz. Ich erinnere mich noch, dass ich im Dämmerlicht Geldscheine auf der Erde liegen sah. Jemand hatte damit eine Spur gelegt und ich folgte der Fährte durch den Wald. Bald entschwand das Licht und im Stockdunkeln stieß ich an etwas, das einen Gong von sich gab. Ich fühlte trockene Blätter unter meinen Füßen, ließ mich fallen und schlief auf der Stelle ein. Eine Fliege krabbelte über mein Gesicht und weckte mich bald danach. Ich drehte mich zur Seite und sah neben mir eine Frau.
   Sie erwachte zur selben Zeit und ihr Blick traf mich wie ein Sonnenstrahl. Lange sahen wir uns tief und furchtlos in die Augen, bevor der erste Satz von unseren Lippen kam. Es war ein Moment vollkommener Sinnlichkeit. Ich fasste mich zuerst und fragte nach ihrem Namen und wie sie hierhergekommen sei.
   Alice war vor Kurzem einem unangenehmen Mann begegnet. Er erzählte, Kostbarkeiten im Wald gelagert zu haben. Sie bräuchte nur den Geldscheinen auf dem Boden zu folgen und könne sich gerne bedienen. Er würde sich bei ihr melden. „Ich war neugierig und bin den Geldscheinen gefolgt. Leider war es schon dunkel, als ich hier ankam.“ Erst jetzt bemerkten wir, dass wir nicht auf Blättern, sondern auf Geldscheinen geschlafen hatten. „Hieß der Mann zufällig Midas?“, fragte ich. „Ja. Kennst du ihn?“ Wir lachten herzhaft, als ich ihr von dem Kartenhaus, dem Karren und der Projektionsblume erzählte.
   „Komm, gehen wir zu mir, ich mach uns was zu essen“, schlug Alice vor und nahm mich bei der Hand. Sie war vor ihrer Beamtentätigkeit als Hundesteuerprüferin geflüchtet und eines Morgens zu Fuß eine beliebige Straße entlang gewandert, erzählte sie mir, dann hatte sie den One Way entdeckt und schritt unter der Regenbogenbrücke hindurch und weiter ins Meer. Seitdem war sie allein. Zur Zeit bewohnte sie einem Mammutbaum ganz in der Nähe.
   Wir schritten einen Wildschweinpfad entlang, bis er sich gabelte. „Hier war ich noch nie. Jetzt weiß ich auch nicht mehr weiter“, gestand sie mir und bog nach links ab. Kurz darauf standen wir wieder vor dem Geldhaufen. Wir waren im Kreis gelaufen. Wir lachten und sahen uns an. Unsere Einsamkeit spiegelte sich in unseren Augen und trieb uns in die Arme. Wir küssten uns und rannten anschließend ausgelassen durch den Wald. Den Tag über pflückten wir Früchte und Beeren, schmückten unsere Haare mit Blumen, badeten außer Rand und Band in einem Teich und liebten uns. Ihren Mammutbaum fanden wir nicht, alle unsere Wege führten zurück zum Geldhaufen. Immer wieder standen wir ratlos davor.
   Es bahnte sich unsere erste Streiterei an. Alice wollte, dass ich die Führung übernahm. „Du bist der Mann, mach endlich was.“ „Was soll ich denn machen?“ „Uns endlich hier rausbringen!“ „Woher soll ich den Weg kennen? Bin ich Hellseher?“ Alice zuckte aus. „Auf dich ist kein Verlass, da hätte ich auch allein bleiben können.“ Ich wurde genervt. „Lass mich in Ruhe. Sind wir schon verheiratet oder wie?“ „Du verstehst mich nicht. Ich brauche einen Partner, der mir Sicherheit gibt und nicht wie ein Gockel ziellos im Wald herumrennt.“ „Such dir doch deinen Supermann. Hier hast du ja genügend Auswahl.“ Hätten wir uns nur nicht aufeinander eingelassen, Wut kochte unkontrolliert in uns hoch. „Nur weil ich eine Frau bin, redest du so mit mir.“ „Warum kannst du nicht endlich still sein.“ „Von einem Versager wie dir lass ich mir gar nichts sagen.“
   Wir verstrickten uns immer weiter in unsere Unbeherrschtheit, blieben aber kleinmütig beieinander. Jeder Weg, den wir einschlugen, führte im Kreis. Im Dämmerlicht sprachen wir nicht mehr miteinander, und wie wir zum letzten Mal im Stockdunkeln zur Lichtung kamen, ließen wir uns wortlos in die Geldscheine fallen, drehten uns den Rücken zu und schliefen traumlos ein.
Unablässig kehrte unser Drama wieder. Wir erwachten, verliebten uns flüchtig, waren ausgelassen und fröhlich, verbrachten die Zeit mit der Suche nach einem Ausweg und endlosen Streitereien, bis wir uns erneut anschwiegen. So ging es Tag für Tag, Wochen, Monate, vielleicht Jahre, wir waren uns dessen nicht bewusst.
   In einem zwielichtigen Moment, ganz in der Nähe des Geldhaufens und inmitten des schönsten Gezänks, stolperte ich über eine Wurzel und prallte gegen einen Kasten, der einen Gong von sich gab. Er war von Schlingpflanzen verdeckt und entpuppte sich bei näherer Untersuchung als Standuhr. Eine Standuhr ohne Zeiger. „Als ich hierher kam, bin ich an etwas gestoßen das gegongt hat“, fiel mir ein. „Ich habe auch einen Gong gehört“, erinnerte sich Alice aufgeregt. Das konnte der Schlüssel sein, um aus unserer Hoffnungslosigkeit herauszufinden. Die Uhr war weder zu bewegen, noch aufzuziehen, konnte nicht zurück oder vorgestellt werden. Sie war eine echte Standuhr.
   Wir untersuchten den Waldboden und fanden Fußabdrücke neben der Uhr. Es waren die unsrigen. Vielleicht konnten wir die Uhr austricksen. Wir wollten versuchen in unseren eigenen Fußstapfen rückwärts an der Uhr vorbeizugehen. Alice machte den Anfang und verschwand rücklings in den Büschen. Ich tat es ihr gleich und fand mich bald auf dem Pfad wieder, den ich gekommen war. Alice war wie vom Erdboden verschluckt. Wir sollten uns nie wiedersehen.
   Völlig ausgelaugt legte ich mich nieder. „Wie lange diese Zeitschleife uns wohl gefangen hielt? Eine endlose Rolle in einem schlechten Film lag hinter mir. Obwohl wir es nicht brauchten, war unsere Begegnung durch nichts anderes als durch wertloses Geld zustande gekommen. Wir hatten uns davon verführen lassen und waren unbedarft seiner Fährte gefolgt. Wir sahen nicht, dass es der Auslöser unserer Tragödie war. Wir hätten das Geld verbrennen sollen, stattdessen schliefen wir jede Nacht darauf.
   „Hoffentlich hat diese Lektion gesessen und meine selbst verschuldete Verblendung verfolgt mich nicht im Schlaf“, dachte ich, bevor ich mich ins Moos bettete. Ich konnte unbesorgt sein, weder von Alice noch von der Zeitschleife träumte ich, sondern von der Wiederentdeckung des entwichenen Traumlandes, in dem es federleicht ist, unmissverständlich und anspruchslos zu lieben.

© Philipp Heckmann